Rückblick: ZeitzeugInnen erzählen - Mut zu Visionen: In Memoriam Alfred Dallinger

Innen- und Kommunalpolitik
Wirtschaft und Arbeit
Dienstag,
11
.6.
2013
 
Wien
Vereinigung Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen

Bei der sehr gut besuchten Veranstaltung der BSA-JuristInnenam 11. Juni 2013 erinnerten sich vier herausragende Persönlichkeiten als ZeitzeugInnen an den Arbeits- und Sozialpolitiker Alfred Dallinger: Bundesministerin und Bundesarbeitskammerpräsidentin a.D. Lore Hostasch, enge Mitarbeiterin von Alfred Dallinger in der Gewerkschaft der Privatangestellten und seine Nachfolgerin nicht nur an der Spitze der GPA, sondern 1997 auch als Arbeits- und Sozialministerin; 2. Präsident des Nationalrates a.D., Bundesminister und Staatssekretär a.D. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Neisser, der nicht nur in Bundesregierung und Nationalrat mit Alfred Dallinger zusammengearbeitet hatte, sondern auch persönlich mit ihm in engerem Kontakt stand; Abg.z.NR und Sozialsprecher der Grünen, Karl Öllinger, zwar noch nicht im Nationalrat, als Alfred Dallinger als Arbeits- und Sozialminister wirkte, aber schon in politischen Funktionen tätig und immer an den Aufgaben des Sozialressorts, vor allem an der Arbeitsmarktpolitik besonders interessiert, und Karl Ettinger, Leitender Redakteur Innenpolitik der „Presse“, einer der profundesten Kenner der österreichischen Innenpolitik, der Alfred Dallinger seit seinen Anfängen als junger Journalist kannte und seinen politischen Weg verfolgte.

Zu Beginn der Veranstaltung wurde mit freundlicher Genehmigung des ORF ein kurzer, dennoch sehr bewegender Film über Alfred Dallinger mit für ihn typischen persönlichen Aussagen gezeigt. Lore Hostasch erzählte im Anschluss daran in berührenden Worten vom 23. Februar 1989, dem Tag, an dem Alfred Dallinger bei einem Flugzeugabsturz in den Bodensee, bei dem alle elf Menschen an Bord starben, tragisch verunglückte.

In der sehr lebhaften und spannenden Diskussion – moderiert von SC i.R. Prof. Dr. Eva-Elisabeth Szymanski – wurden die Persönlichkeit und das Wirken Alfred Dallingers gewürdigt, der Sozialpolitik immer als Gesellschaftspolitik betrachtet und seine politischen Ziele – mit einem stets ganzheitlichen Zugang – solidarisch und konsequent darauf ausgerichtet hatte, die Situation der Menschen nachhaltig abzusichern und zu verbessern. Arbeitsmarktpolitik, Bildung im weitesten Sinn, um arbeitsfähig zu sein und zu bleiben, Verteilungsgerechtigkeit, adäquates Einkommen, Sicherung des Lebensstandards im Alter, betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung und international abgestimmtes Vorgehen waren seine vorrangigen Ziele. Für Alfred Dallinger standen immer die Gestaltungsmöglichkeiten, niemals die nächsten Berichte in den Medien oder bevorstehende Wahlen im Vordergrund: Er wollte die Gesellschaft im Interesse der Menschen zum Positiven verändern. Lore Hostasch verdeutlichte den Gestaltungswillen von Dallinger anhand eines persönlichen Erlebnisses: Sie hatte als junge Gewerkschafterin das interessante Angebot bekommen, Personalchefin eines großen Unternehmens zu werden. Als sie Alfred Dallinger, ihren Gewerkschaftsvorsitzenden, darauf ansprach, blickte der sie sehr kühl an und fragte: „Willst reich werden oder willst gestalten?“ Für welchen Weg sich Lore Hostasch entschied, ist bekannt.

Dallinger sprach immer Klartext, war immer ehrlich, er redete nie um den heißen Brei herum, wie es PolitikerInnen, die sich nicht „festnageln“ lassen wollen, leider immer wieder tun. Heinrich Neisser erzählte dazu eine sehr passende Anekdote: Bei der Eröffnung einer der privaten Kuranstalten seines Schwiegervaters – von daher rührten die persönlichen Kontakte zu Dallinger – schilderte dieser ziemlich pikiert, dass ihn bei einer Veranstaltung im Auditorium Maximum ein langhaariger Student mit Zigarette im Mund als erstes gefragt hatte, wieviel er verdiene. Bruno Kreisky, der dabei war, fragte ihn: „Hast Du’s ihm g‘sagt oder hast Du’s ihm erklärt?“ Neisser bezeichnete die Frage von Kreisky als charakteristisch: Kreisky sei oft derjenige gewesen, der „erklärt“ habe, ohne sich festzulegen, Dallinger dagegen habe immer gesagt,was Sache war.

Karl Öllinger hob besonders hervor, dass für ihn persönlich vor allem die Reform der Arbeitsmarktverwaltung unter Dallinger ein sensationeller Fortschritt gewesen war: Früher hatten die Arbeitsämter die Arbeitslosigkeit nur verwaltet, unter Dallinger wurde sogar experimentelle (!) Arbeitsmarktpolitik zugelassen, Experimente, die sich zum Teil als so erfolgreich erwiesen, dass sie heute noch existieren. Es wurde damals Raum geschaffen für kulturelle Infrastruktur, die es sonst nicht gegeben hätte, so auch in seiner Heimatgemeinde in Oberösterreich.

Die erschreckende Situation in der EU, in der in einigen Staaten mehr als 50 % der Jugendlichen ohne jede berufliche Perspektive und trotz zum Teil exzellenter Ausbildung ohne Chance auf einen adäquaten Arbeitsplatz sind, wurde thematisiert und gemeinsam der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten nach strukturellen Lösungen suchen und diese auch finden mögen, denn diese Probleme müssten im Interesse des geeinten Europas rasch und nachhaltig gelöst werden. Österreich mit seiner arbeitsmarktpolitischen Vorzeigerolle innerhalb der Gemeinschaft könnte und sollte einen solchen Prozess in Gang setzen, es fände sicherlich Verbündete in anderen kleineren EU-Staaten. Dallinger hätte das sicher nicht ohneweiters hingenommen.

Für die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Ziele und Vorstellungen von politischen Parteien wurden die derzeit bei Wahlen erzielbaren Mehrheitsverhältnisse als zumindest mitverantwortlich betrachtet, weshalb eine Wahlrechtsreform zu diskutieren wäre, die wieder ein „Regieren“ ermöglichen würde. Szymanski brachte dazu die Idee ins Spiel, der stimmenstärksten Partei so viele Mandate dazuzugeben, dass sie über 91 Mandate im Nationalrat verfügt und somit zwar eine Koalition eingehen müsse, aber nicht bloß auf eine Partei angewiesen und damit erpressbar sei, sondern auch mit einer kleinen Partei regierungsfähig wäre. Dies stünde noch mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts im Einklang und würde die kleinen Parteien – anders als das Mehrheitswahlrecht – nicht ausschalten. Neisser bestätigte, dass eine Wahlrechtsreform dringend in Angriff zu nehmen sei, auch wenn er andere Vorstellungen dazu habe.

Gemeinsam erinnerte man sich an viele Debatten im Nationalrat, so beispielsweise an die Diskussion um das Offenhalten der Geschäfte am 8. Dezember. Damals habe ein ganz anderes Niveau politischer Diskussions- und Streitkultur geherrscht als heute. Heute böten die Fernsehübertragungen aus dem Hohen Haus bedauerlicherweise ein oft sehr peinliches und erschreckendes Bild. Dallinger dagegen sei immer – bei allen politischen Gegensätzen – ein fairer Verhandlungspartner gewesen, der zuhören konnte und auf andere einging, auch wenn ihm nachgesagt wurde, dass er seine Ziele, vor allem dann, wenn diese von Beschlüssen der zuständigen Gremien getragen waren, „stur“verfolgte.

Kritisch wurde von Karl Ettinger angemerkt, dass sich Dallinger nicht der Pflegesicherung angenommen hatte, die erst von Josef Hesoun 1993 erreicht wurde. Auch stellte er die Frage in den Raum, ob das Sonderunterstützungsgeld, das von der Kreisky-Alleinregierung eingeführt worden und für die Krise der verstaatlichten Industrie ein wohl richtiges Rezept war, vielleicht dazu geführt haben könnte, dass so viele ÖsterreicherInnen eine frühere Pension anstreben, nach dem Motto: Wenn andere das haben, möchte ich das auch. Letztlich herrschte Übereinstimmung darüber, dass Dallinger selbst die Idee der Wertschöpfungsabgabe konsequent weiter verfolgt und die Finanzierung der Sozialsysteme besser abgesichert sowie mittlerweile sicherlich auch die Arbeitszeitverkürzung umgesetzt hätte, die heute trotz steigender Arbeitslosigkeit, überlangen Arbeitszeiten und ständigem Stress kein vordringliches Thema mehr für die Gewerkschaften zu sein scheint. Denn die Herausforderungen, die Anlass für die visionären Ideen von Alfred Dallinger waren, sind noch heute in vielen Punkten gegenwärtig – auch wenn ein SPÖ-Spitzenpolitiker damals meinte, wer Visionen habe, sei ein Fall für die Medizin.

Übereinstimmend wurde als sehr bemerkenswert bezeichnet, dass eine historische Persönlichkeit wie Alfred Dallinger nach so langer Zeit noch immer nichts an Aktualität und Faszination eingebüßt habe und – wie es Neisser treffend ausdrückte – ein geradezu nostalgisches Bedürfnis wecke, wieder einmal solche PolitikerInnen zu haben. Ettinger meinte dazu, es wäre zu überlegen, Mindestanforderungen für das Ministeramt zu definieren, um Fehlbesetzungen, wie wir sie leider erleben mussten, von vornherein auszuschließen.

In ihrem Schlusswort präsentierte die Vorsitzende der BSA-JuristInnen Dr. Barbara Auracher-Jäger die Idee, die der Veranstaltungsreihe „ZeitzeugInnen erinnern sich“ zugrunde liegt. Sie bedankte sich bei den Gästen am Podium für die angeregte und interessante Diskussion, die die Veranstaltung zu einer ganz besonderen gemacht habe. Abschließend rief sie die „Highlights“ der Diskussion zur Persönlichkeit Alfred Dallinger nochmals in Erinnerung: Er war ein „Zulasser“, einer, der Dinge, die er guthieß, einfach geschehen ließ, ein Grundsatztreuer, ein Humanist, er dachte immer die Grenzen mit, er war berechenbar, kein Polterer, kein Populist, ein Mann mit Visionen und klaren Vorstellungen. Jemand, der das nostalgische Bedürfnis weckt nach PolitikerInnen, wie er einer war – und nicht den Ruf nach Definition von Mindestanforderungen für ein Ministeramt.

Nach dem Ende des offiziellen Teils der Veranstaltung wurde in weiterem Gedankenaustausch noch lange diskutiert.

Sektionschefin i.R. Prof. Dr. Eva-Elisabeth Szymanski

 

Veranstaltungsankündigung